Alexander Adrion
"Jeder Zauberer, jeder Künstler oder Schriftsteller schafft sich wahrscheinlich durch das, was er tut und was von ihm öffentlich bekannt wird, sein eigenes Publikum, das auf seinen Stil eingeht, diesen Stil mag."
Alexander Adrion (1923 - 2013)
Kalo Taxidi
Zur Weiterreise des Alexander Adrion
Ein mit weißem Schutzumschlag und roter Aufschrift versehenes, für die jugendlichen Hände recht gewichtiges Buch, welches gleich ganz vorne die Darstellung eines Zauberers mit spitzem, blauen Hut, der, inmitten einer Salongesellschaft, hinter einem Tisch stehend, seine Zuschauer verwundert, das war für mich die erste Begegnung mit Alexander Adrion. Nie hätte ich damals gedacht, daß mich der Verfasser dieses Zauberbuches eines Tages empfangen würde, noch welchen Einfluß er selbst auf meinen eigenen Lebensweg nehmen würde. Das Buch „Die Kunst zu Zaubern“ aus dem Jahr 1978 stellt für mich Adrions Opus Magnum dar. Es zeigt in gänzlicher Gelassenheit doch vorsichtiger Vehemenz, in Wort und Bild und Unterweisung, was für Alexander Adrion die Zauberkunst gewesen war: Ein Spiel der Freude, der Komödie, des Erstaunens mit Verzicht auf Sensation, eine Kunstform intellektueller Begegnung aller daran Beteiligten in ihren jeweiligen richtigen, einverständigen Rollen.
Im Dezember 1997 ergab sich das erste Telefonat: „Ja, bitte?“ mit diesen Worten empfing Adrion einen immer am Apparat; dieses „Ja, bitte?“ in seinem persönlichen Duktus klingt mir bis heute im Ohr. In dieser ersten Konversation sprachen, wir über das Zwergenpuzzle. Es folgte der Austausch von Weihnachtsgrüßen, briefliche Korrespondenz im anschließenden Januar, dann mein erster Besuch bei ihm und seiner sehr verehrten Frau Anne in dem schönen Hause auf dem Berg bei Köln. Es gibt Kaffee, Tee und etwas Kuchen, Kekse; wir sitzen im Living, vor dem großen Bücherregal, an den Wänden umgeben von vielen Abbildungen, die mir aus dem erwähnten Buch vertraut sind, (es gibt sie wirklich, diese Abildungen haben die Zeiten überdauert und ihren Weg wirklich zu ihm gefunden). Meine vorsichtigen Fragen, die, wie er gleich feststellt, nicht aus der Theorie sondern aus der selbst erlebten Praxis des Zauberkünstlers kommen, bewegen ihn dazu, zu berichten, von einem Auftritt in einem französischen Schloß, dem Palais Beauharnais, im Rahmen eines Diner, vor dem Dessert, doch nicht später als 22 Uhr 15, der Gastgeber spricht und führt zur schönen Surprise seine Gäste zum Zauberer: Publikum im separaten Salon, auf Stuhlreihen, vor Podium.
Seit diesem ersten Nachmittag dort oben auf dem Berg ergab es sich, daß die so aufgenommene Verbindung zwischen ihm und mir sich erhalten sollte. Wir telefonierten immer wieder, er rief mich auch an, um zu erfahren, was ich da draußen erleben würde und wollte en détail berichtet wissen vom Geschehen und Repertoire meiner Auftritte, erkannte sich in den geschilderten Situationen mehr als einmal wieder. Viele Male durfte ich ihn in seinem Hause besuchen. Er zeigte mir Bücher und Autoren, die mir unvertraut waren, legte mir „Neo-Magic“ von Samuel S. Sharpe und auch Kaplans „Fine Art of Magic“ ans Herz, riet mir, den einen oder anderen Beitrag zu veröffentlichen, also zu schreiben, gab mir den Anstoß einen Vortrag über den Beruf des Taschenspielers zu verfassen und zu halten, wies daraufhin, wie wichtig es sei, auch öffentliche Vorstellungen zu geben und dabei Presseresonanz zu bekommen.
Ein anderes Mal sprachen wir über das von ihm so geliebte Becherspiel, „die älteste Täuschung, die die Menschheit kennt, in welchem die ganze Theorie der Auswechslungen, die den Taschenspieler ausmachte zu finden ist.“ Im Blick zurück ist dieser Becherspielmoment mir wertvoll über alle Maßen; zur blauen Stunde, Adrion in seinem Speisezimmer stehend am Tisch, ich ihm als seiner Publikumsgesellschaft gegenüber und führt, nur für mich, als auf die 80 Jahre zugehender alter Meister, das Becherspiel vor, welches ihn all“ die Jahrzehnte hindurch begleitet hatte. Seitdem er sich Mitte der achtziger Jahre ganz leise und endgültig von der Bühne zurückgezogen hatte, sah das so niemand mehr. Drei große und zwei größere Bälle ließ Adrion zum Höhepunkt seiner Becherspieltour erscheinen. Auch fragte er nach meinem Becherspiel, es wurde vorgeführt, gefolgt von einem Gedankenaustausch wo und wann im Programm diese Pièce platziert werden sollte, welche Ladungen wo verborgen wären etc. etc. Adrion gab mir den unbedingten Hinweis, das Becherspiel fürderhin nur auf der Bühne zu zeigen und nicht mehr am Tisch, einen Rat, dem ich folgte, nur zu gern wieder und wieder folge, Abend für Abend.
Auf einer meiner Reisen sprach mich nach einem Auftritt ein Herr aus dem Publikum an. Er habe als Junge in den 1950er Jahren einen Zauberabend des Alexander Adrion besucht, er wisse es wie heute. Und Adrion habe ein Kunststück mit mehreren Zeitschriften gezeigt; mein Gesprächspartner konnte dieses Experiment äußerst genau beschreiben und war heute noch genauso erstaunt darüber, wie damals in seiner Jugend, daher sprach er mich ganz gezielt zu diesem Zauberkunststück an und stellte auch die Frage, ob ich wisse, wie das funktionierte. Das Geheimnis konnte ich nicht deuten, doch sagte ich dem Gast, daß ich mit Herrn Adrion in Verbindung stehe und ihm das Beschriebene berichten würde. Adrion bezeichnete die Schilderung dieser Begebenheit als „Watte ums Herz“, einer Redewendung, welcher er sich häufig bediente, wenn Gedankengänge und Darstellungen ihn im Besonderen berührten. Selbstredend fragte ich ihn nach dem Geheimnis seines Kunststücks, dessen Wirkung auch nach über 50 Jahren nicht verpufft war und er übergab es mir. So, wie er mir im Laufe der Jahre die eine oder andere Sache aus seinem Atelier überließ: die Zauberglocke, die von alleine läuten konnte, ein Ringspiel, drei Ringe seiner Ringseilroutine, das Gerät für die fliegende Münze, die eine oder andere Lithographie, das eine oder andere Plakat.
Bei einem Besuch im Winter überreichte Herr Adrion mir etwas, welches aus heutiger Sicht herausragende Besonderheit erlangen sollte: einen Bogen seltsam zusammengefalteten Papiers. Er gab mir dieses Requisit, weil er, wie er sagte wußte, daß ich daraus etwas machen würde, daß dies etwas für mich sei. Und er beschrieb mir, wie er selbst dieses Papier vor langer Zeit bei Stanyon in London entdeckte, und wie es seit dem für ihn keinen Auftritt ohne dieses Papierfaltekunststück mehr gegeben hat. Er führte es mir sogar vor, immer wieder vor, bei verschiedenen Wiedersehen, bis ich ihm eines Tages zeigen konnte, wie sich die Geschichte dieses von Hofzinser als „Das Papier“ beschriebenen Requisits nach seiner Weitergabe in meine Obhut fortsetzte. Das, was Adrion über den gefalteten Bogen Papier mir sagte und vor allem mir in seinem Atelier voraussagte, ist eingetroffen, wieder und wieder und immer wieder, ich erlebe es selbst Abend für Abend. So auch am Abend des 04. Mai des Jahres 2012, als ich in der Rolle des Zeremonienmeisters durch den Festabend des 100. Jubiläums des Magischen Zirkels Hamburg führte. Adrion, der zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr reiste, ließ durch meinen Mund dieser altehrwürdigen Institution seine Glückwünsche übermitteln. Und dann öffnete ich, die Sonne war gerade am Versinken und sandte ihre Strahlen golden durch die großen Fenster des Festsaals, hoch über der Hansestadt, die mit rotem Papier bezogene Schachtel der Trouble Wit, die an diesem Abend eine gänzlich außerordentliche und wahrhaft magische Rezeption heraufbeschwor, die alle damals im Saal anwesenden Gäste bestätigen werden.
Durch die Begegnungen und den mir gewährten Gedankenaustausch mit dem Künstler Alexander Adrion hat sich für mich die Welt der Zauberkünste noch weiter geöffnet, geradezu offenbart. Vor allem zeigte er mir, was Zauberkunst zu sein vermag und was es bedeuten kann, Zauberkünstler von Beruf zu sein. Er war für mich die wirkliche Bestätigung, daß es möglich ist, ein Leben in dieser selbstgefundenen Rolle bis zum Schluß würdig und bürgerlich gesichert zu durchschreiten. In seinen Büchern hat er vieles festgehalten, was ihm diesen Weg ermöglicht hat; vor allem wenn man die Bücher wiederholt liest, reflektiert und auch mit der Lupe das eine oder andere Bild betrachtet, findet man früher oder später alles, was für Alexander Adrion vonnöten war um seinen herausragenden Weg zu gehen.
In einem seltenen Moment schritten wir zusammen durch den verschneiten Winterwald und gingen dabei, um nicht auf dem glatten Boden auszugleiten, Arm in Arm. Daran denke ich heute immer wieder, fühle seinen Arm in meinem und weiß dann, als in der Profession des Zauberkünstlers den Weg gehender, daß ich nicht ausgleiten werde.
In meiner höchst selbst erlebten Wahrnehmung und Erinnerung seiner Persönlichkeit verkörpert Herr Alexander Adrion alles, was der Beruf des Zauberkünstlers, geleitet von Ruhe, Sensationsferne, Bescheidenheit, Freundlichkeit und Beständigkeit umfassen kann: den Gaukler, Taschenspieler, Prestidigitateur, den Dramatiker, Autor, Regisseur und Erfinder, den Schauspieler, Komödiant, Zauberkünstler und, auf höchster, je zu erreichender Stufe, den Zauberer.
Alexander Adrion liebte es zu reisen, mit großer Freude nach Griechenland. Am Ende jedes Abschieds, sei es am Telefon oder bei ihm auf dem Berg, sprach er stets als letzte Worte: „Kalo Taxidi!“ Genau das rufe ich ihm nun nach, wo er seine kleine Tasche gepackt hat, um über den Styx zu setzen, sicher hat er dem Fährmann die Münze hinter dem Ohr hervorgeholt, auf dem Weg ins Ungewisse, um neue Verzauberungen zu erfahren: Kalo Taxidi, Herr Alexander Adrion!
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Diesen Beitrag verfasste ich im Jahr 2013, die Veröffentlichung erfolgte in der Zeitschrift MAGIE.
Am 17. November 2019 wäre Alexander Adrion 96 Jahre alt geworden.
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Fotohinweis: Alle Fotos auf dieser Seite von Stefan Alexander Rautenberg oder Familie Adrion.